Kunstunterricht war ein Graus für mich in der Schule, da ich in dieser Hinsicht vollkommen unbegabt bin. Meine Zeichnungen kamen über das Niveau eines Kleinkindes nicht hinaus, meine tönernen Werke hatten eine Haltbarkeit von wenigen Stunden. Und von mir gefaltete Papierfiguren zeichneten sich durch eine Vielzahl von unnötigen Falzlinien aus, die sämtliche Fehlversuche deutlich dokumentierten. Nichtsdestotrotz habe ich gerade für die Papierkunst einen großen Faible – als Betrachter, versteht sich. Es ist faszinierend, was aus einem derart labil wirkenden Material entstehen kann, wenn fingerfertige Menschen damit allein gelassen werden.
Diese Bewunderung erklärt denn auch meine Begeisterung für „Tearaway“, einer verträumten Jump’n’Run-Reise durch eine Welt, die vollkommen aus Papier und Pappe geformt ist und sich dadurch einen Stil verschafft, der ebenso einzigartig ist wie die Handwerks- und Basteloptik von „LittleBigPlanet“. Das ist wiederum wenig verwunderlich, denn „Tearaway“ wurde von Sackboy´s Erfindern, Media Molecule, ersonnen. Doch das Papierabenteuer ist definitiv kein Spinoff des Welterfolgs, sondern eine eigenständige und mindestens ebenso liebenswerte Vision.
Alles beginnt mit einem Foto, und zwar vom Spieler. Denn „Tearaway“ möchte die Grenzen zwischen Realität und Virtualität durchlässig machen. Die Hauptfigur, der wandelnde Brief Iota, trifft fortan immer wieder auf das „echte“ Abbild des Spielers: Dessen Konterfei taucht als Bild oder Sticker auf und ist außerdem das Gesicht der Sonne, die fortwährend Iota’s Fortschritte hinab blickt. Die Handlung des Spiels dreht sich folgerichtig überwiegend um die Suche Iota’s nach dem Gesicht in der Sonne, dem er eine bzw. seine ganz individuelle Nachricht überbringen soll.
Gewisse Ähnlichkeiten mit dem Meisterwerk „Journey“ sind sowohl in Handlung als auch in Spielablauf und Design von „Tearaway“ erkennbar, doch setzt Media Molecule auf wesentlich mehr Steuerungsoptionen als es die beinah minimalistische Reise zum mystischen Berg macht. Und genau hier zeigt sich, dass die Entwickler „Tearaway“ der PS Vita regelrecht auf den Leib geschrieben haben. Von den verschieden Touchscreens über die Sixaxis-Steuerung bis hin zum Mikrofon und der bereits erwähnten Kamera kommt alles zum Zuge, was in der mächtigen Handheld-Konsole steckt. Auf mich wirkt dabei nichts aufgesetzt, erzwungen oder wie ein bloßes Gimmick! Alles macht Sinn, Spaß, Laune, stellt mich vor neue Herausforderungen und bereitet eine neue Spielerfahrung! Genau so hätte die Vita schon von Anfang an in Szene gesetzt werden sollen, weswegen es ein Jammer ist, dass „Tearaway“ erst jetzt erscheint, da es unwahrscheinlich ist, dass das Spiel die Lage der Vita nach den trüben Anfangsmonaten merklich verbessern könnte.
Media Molecule beweist mit „Tearaway“ einmal mehr die Ausnahmestellung, die dieses Team in Sachen Kreativität einnimmt. Jeder Abschnitt hat einen speziellen Charakter, bietet neue Aufgaben und Herausforderungen und andere Steuerungsmöglichkeiten. Die Handlung wird liebevoll weitererzählt, teils durch kleine Cut-Scenes, aber oftmals nur durch die Interaktivität zwischen Iota und der eigenen Visage. Nebenbei dürfen versteckte Kisten gesammelt, Faltpläne für Papierkunstwerke fotografiert und jede Menge Verzierungen für Iota und seine Umgebung gefunden werden.
Doch gerade in Sachen Inhalt und Umfang gerät das Spiel ins Schlittern. Ich bin wirklich kein Profi in Sachen Jump’n’Run-Spiele, hatte aber keine Probleme damit, „Tearaway“ in rund fünf Stunden durchzuspielen. Daran ist nicht nur der geringe Umfang schuld, sondern die Tatsache, dass Iota’s Abenteuer überwiegend sehr leicht ausfallen. Die unterhaltsamen Kämpfe mit putzigen Pappgegnern kommen nur in der ersten Hälfte des Spiels vor, während im weiteren Verlauf die Geschicklichkeit und Reaktionsfähigkeit gefragt, aber nicht herausgefordert werden.
Wäre „Tearaway“ mit einem ähnlich mächtigen Editor wie „LittleBigPlanet“ ausgestattet, könnte ich die geringe Spielzeit der Kampagne verschmerzen und gespannt auf die Kreationen aus der Community warten. Doch Iota’s Reise ist das Einzige, was „Tearaway“ zu bieten hat, und diese findet ausschließlich alleine statt, da ein Multiplayer-Modus nirgends zu finden ist. Für ein Spiel, welches derzeit mindestens 30 Euro kostet, ist das definitiv zu wenig und dürfte die Vita-Skepsis bei vielen nur noch mehr bestätigen.
„Tearaway“ ist ein charmantes, witziges und cleveres Spiel, welches beweist, was auf der Vita alles möglich ist. Kein anderes mir bekanntes Spiel auf Sony’s unglücklicher Handheld-Konsole wäre so gut als Launch-Titel geeignet gewesen. Unter den jetzigen Umständen bleibt bei mir allerdings neben der echten Freude über ein wahrlich einzigartiges Spielerlebnis nur das Unverständnis über die zu späte Veröffentlichung und die Kürze des Vergnügens.