Der späte Siegeszug der Interactive Novels

26. März 2013

Ach, die 1990er. Das waren noch Zeiten, in denen ich von Spielen träumte, die so real wie die Realität aussahen. Bereits solch Urgesteine wie David Cranes “Ghostbusters“, Ron Gilberts “Maniac Mansion“ oder Dave Fox “Zak McKracken“ hegten in mir den Wunsch, dass es so cool wäre, wenn die Grafik einem Kinofilm gleiche. Und bereits ein Jahrzehnt später kam die Revolution, die einen solchen Traum plötzlich wahr machen sollte: die CD-Rom! Statt schimmelige 1 MB pro Datenträger, waren derer 650 möglich. Selbst eine (bezahlbare) PC-Festplatte aus der Zeit vermochte nicht -dermaßen- viel zu fassen.

Was war die Konsequenz? Natürlich Spiele mit hyperrealistischer Grafik, vollwertiger Kulisse und echten Schauspielern! Die ersten CD-Frühwerke aus den USA steckten voller Filmsequenzer, die, äh, man, ja, also… sich anschauen konnte. Das Spiel dahinter? Das bestand dann eigentlich nur aus simplen Klicks der Marke “Entscheide dich für Szenario A oder B“. Im Bestfall nutzten die Entwickler die Filmerei zur Ummantellung eines “gewöhnlichen“ Titels á la “Wing Commander 3“. Und selbst das umjubelte “Rebel Assault“ konnte dank seiner starren Railshooter-Mechanik nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Traum des “Film zum Mitspielen“ mit großen Einschränkungen verbunden war.

Kurz: Das Genre des “Interactive Movie“ scheiterte grandios. Reden wir nicht mehr darüber… oder? Nun, es ist inzwischen etwas passiert – oder besser gesagt: Der Wind hat sich gedreht.

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Das waren Zeiten: Zum Erfolg eines “Interactive Movies” brauchte es mindestens eine etablierte Serie, alternde Schauspieler und ein Riesenbudget, so wie “Wing Commander 3”.

Was haben “To the Moon“, “Heavy Rain“, “The Walking Dead“ und “Dear Esther“ gemeinsam? Allesamt erzählen sie eine aufwändig geschriebene Geschichte und gaukeln dem Spieler allenfalls eine gewisse Freiheit vor. Das “Spiel“-Ziel besteht darin, das Ende der Story zu erfahren. Auf dem Weg dorthin dürft ihr zwar den/die Protagonisten selbst lenken, aber euch werden dabei enge Ketten angelegt, durch die kein Platz für Herausforderungen, Rätsel oder gar offene Welten ist. Ich bezeichne diese Titel deshalb gerne übergreifend als “Interactive Novels“.

Vergleicht man die Konzepte der genannten Spiele mit denen der “Interactive Movies“ aus den 1990er Jahren, dann stelle ich viele Gemeinsamkeiten fest. Die Handlung ist hier wie dort das zentrale Element, während der Spieler nur die Suggestion haben soll, wirklich verantwortlich für seine Taten zu sein. Der größte Unterschied: Im Gegensatz zu damals funktioniert die Idee heute. Man könnte also auch sagen, dass sich ein vormals sehr unbeliebtes Genre urplötzlich vom hässlichen Entlein zum beliebten Schwan gewandelt hat. Allein “The Walking Dead“ hat unendlich viele “Game of the Year“-Preise gesammelt, dass ein Blatt Papier dafür nicht mehr ausreicht – wohlgemerkt von Spielern bejubelt und nicht den “bösen“, “korrupten“ Kritikern durchgedrückt, zu denen ja auch ich gehöre.

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Die einzige, echte positive Ausnahme “Tender Loving Care” gibt es inzwischen auch als App für iPhone und iPad. (Bild: Trilobyte)

Jetzt gibt es noch eine weitere Differenz, die in meinen Augen mehr als bizarr ist: Keiner der genannten Hits baut auf echte Filmsequenzen, sondern vertraut Bitmaps oder Polygonen. Im Gegensatz dazu haben sämtliche “Interactive Movies“, die großen Wert auf real gefilmte Szenen legten, eine katastrophale Bruchlandung hingelegt – vom 1998 erschienen “Tender-Loving-Car“-Geheimtipp vielleicht abgesehen. Ansonsten waren die Wertungen der betreffenden Machwerke dermaßen vernichtend, dass sie den Jahresdurchschnitt einiger Magazine in neue Tiefen rissen. Und auch kommerziell betrachtet folgte eine Leiche nach der anderen. In meinen Augen war das Fiasko sogar so schlimm, dass die “Interactive Movies“ aufgrund ihres fürchterlichen Rufs ein weiteres, sehr nah verwandtes Genre mit in den Abgrund zogen: die Point’n’Click-Adventures. Ich verweise diesbezüglich allein auf Sierras verzweifelte Versuche, auf den Hype-Train zu springen und die mehr als gemischten Reaktionen, welche Hybriden wie “Phantasmagoria“ oder “Gabriel Knight 2“ hinterließen.

Lag das Scheitern also gerade in den Filmsequenzen begründet? Oder vielleicht eher daran, dass aufgrund der neuen Technik plötzlich Leute an Spielen tüftelten, die zuvor gar keine Ahnung von dem Medium hatten? Ich erinnere hier allein an Greg Roach, der für mich mit seinen beiden “Quantum Gate“-Titeln als das Sinnbild für den gescheiterten “Interactive Movie“ steht.

In der Tat hätte man nur einmal über den großen Teich beziehungsweise nach Japan blicken müssen. Dort ließ man die Finger von der Filmkamera und erschuf lieber aufwändige Geschichten in Form von Manga & Anime. Mangels Sprachbarriere kann ich nur mutmaßen, welch Kleinode dabei herauskamen. Aber wer sich die dort geläufigen Spiel-des-Jahres-Preise anschaut, der stößt immer mal wieder auf einen obskuren, hierzulande völlig unbekannten Titel, hinter dem sich ein “Interactive Novel“ oder eine der nah verwandten “Dating Sim“ versteckt. Zu den wenigen Highlights, von denen zumindest der freakige Amerikaner/Europäer Kenntnis hat, zählen die “Sakura-Wars“-Serie (die das Genre geschickt mit einem vollwertigen Strategiepart verbindet), “Tokimeki Memorial“ und natürlich Hideo Kojimas “Snatcher / Policenauts“-Doppelschlag.

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Volle Punktzahl von allen Famitsu-Redakteuren: 428 knackt in Japan Wertungsrekorde, von denen die US-Machwerke der 90er Jahre nicht einmal zu träumen wagten. (Bild: Sega)

Bis heute schaffen viel zu wenige dieser japanischen Hits den Weg hierher – was insbesondere im Falle von “428“ mehr als bedauerlich ist. Denn gerade dieses Spiel, welches in Japan reihenweise Höchstwertungen einheimste, baut dann eben DOCH auf reale gefilmte Szenen, gleicht somit am ehesten den “Interactive-Movie“-Experimenten von vor 15 Jahren und scheint trotzdem absolut grandios zu sein. Leider würde sich kein europäischer/amerikanischer Publisher trauen, dieses Monster zu lokalisieren. Es ist überhaupt ein Wunder, dass “wir“ immerhin ein übersetztes “Sakura Wars“ bekommen haben – drei Jahre nach der Erstveröffentlichung.

Umso mehr gehören Ausnahmen wie “999“ und dessen jüngst erschienene Fortsetzung “Virtue’s Last Reward“ zelebriert. Diese beiden Spiele vermengen ähnlich wie “Phantasmagoria“ das Genre der “Interactive Novels“ mit dem der klassischen Adventures – nur eben inklusive Spielspaß. Die meiste Zeit über klickt ihr euch durch ewig lange Zwischensequenzen, in denen ihr von einer über alle Maßen komplexen Handlung sowie abartig vielen Text-Dialogen erschlagen werdet, neben denen ein gewöhnliches “Metal Gear Solid“ wie ein französischer Arthouse-Film wirkt.

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Gewöhnt euch an diese Textbox: “Virtue’s Last Reward” erschlägt den Spieler mit Texten. (Bild: Aksys)

Speziell in “Virtue’s Last Reward“ steckt so derb viel Inhalt drin, dass andere Publisher eine Trilogie daraus gemacht hätten. Aus einer zynischen “Spielt-ein-makaberes-Spiel,-um-eure-Freiheit-zurück-zu-erlangen“-Idee, die an Horrorfilme á la “Saw“ erinnert, entspringt am Ende eine absolut brillante Pointe, die aber auch rein gar nichts mehr mit dem Aufhänger zu tun hat. Es zerreißt mich regelrecht, nichts darüber erzählen oder auch nur andeuten zu dürfen. Aber ich kann euch versichern: Die 40 Stunden (!) lohnen sich. Es gibt unzählige Kapitel, unterschiedliche Storystränge sowie verschiedene Enden. Der Drang, all diese zu “sammeln“, ist bemerkenswert groß. Und die besagte Auflösung ist eine außerordentliche Befriedigung für den ganzen Stress und den teilweise doch arg ausufernden Gesprächen, die ihr zuvor durchstehen “musstet“.

Auf der anderen Seite erinnert “Virtue’s Last Reward“ konzeptionell an die ebenfalls ehemals geächteten Render-Adventures, in denen ihr euch aus der Ego-Perspektive von einem Ort zum nächsten klickt, allerlei nicht-funktionierende Maschinen wie Mechaniken anschaut und letztlich diese mit kryptischen Tipps sowie ein wenig Try & Error zu reparieren versucht. Fast all diese Rätsel sind überraschend logisch aufgebaut und gleichzeitig enorm anspruchsvoll, weshalb sie zu den schwersten und zugleich fairsten ihrer Art gehören. Das ist nämlich die eigentliche Sensation von “Virtue’s Last Reward“: Das Spiel ist immens herausfordernd und bringt selbst Profis zum Weinen. Dieses Stück Software sollte der finale Beweis dafür sein, dass “Interactive Novels“ funktionieren – in vielerlei Hinsicht.

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Wenig Spiel, große Emotionen: “The Walking Dead” schlug trotz aller Einschränkungen ein wie eine Bombe. (Bild: Telltale Games)

Bezüglich solch Leichtgewichten wie “To the Moon“ oder “Dear Esther“ fragt sich hingegen so mancher: Würde es da nicht ein Buch oder ein klassischer Film ebenfalls tun? Diese Nein-Sager unterschätzen den Faktor der Suggestion, den ich bereits andeutete. Im Gegensatz zu den 1990er-Jahre-Machwerken schaffen es die modernen “Interactive Novels“ in der Tat, mir das Gefühl zu geben: Ich bin für all das verantwortlich, ich habe den Fall gelöst, ich habe das Geheimnis gelüftet oder ich habe die Welt gerettet. Besonders bemerkenswert ist “The Walking Dead“, weil allein durch diesen total simplen Kniff mit den Einblendungen á la“Person XY wird sich merken, was du gesagt hast“ mir eben suggeriert wird: Meine Taten SIND wichtig. Da ist es dann letztlich egal, wenn der eigentliche Kern der Handlung gleich bleibt und das von den Entwicklern erdachte Ende unvermeidlich ist.

Der König der “Interactive Novels“, in meinen Augen “Heavy Rain“, schafft diese Kurve am besten. Was habe ich mich bei dieser mördergeilen Fahrtszene an das Joypad geklammert – oder was habe ich gelitten, als ich versehentlich “den Abzug“ drückte. Kenner des Spieles wissen ganz genau, von welcher Szene ich rede: Es ist die eine, beste, ultimative Situation, an der sich das Genre des “Interactive Novel“ festbeißen muss. Sie würde weder in einem “normalen“ Spiel mit den gewohnten Freiheiten noch in einem “einfachen“, passiven Film die gleiche Wirkung erzielen.

Meiner Meinung nach scheiterten die “Interactive Movies“ der 1990er Jahre nicht zwingend an den realen Filmszenen, sondern mehr an der Unfähigkeit der Verantwortlichen, mir eine glaubwürdige Geschichte zu vermitteln. Entsprechend wollte ich mich nicht mit dem/den Protagonisten identifizieren, woraufhin dann natürlich alles zusammenbricht: Spielspaß, Atmosphäre, Seriosität. Ich würde für eine englische Version von “428“ morden, allein um der amerikanischen/europäischen Welt zu zeigen: Da, natürlich geht das. Es müssen nur die richtigen Leute daran sitzen: Nicht irgendwelche Filmemacher oder Buchautoren, sondern Spieleentwickler.

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3 comments on “Der späte Siegeszug der Interactive Novels

  1. Schöner Artikel :-)
    Auch wenn ich einiges davon auch spielte, als erstes erinnerte ich mich aber an Akte X: Das Spiel. Ich hatte die Version mit 7(!) CDs…

  2. Der Witz ist, ich mochte die Realfilm-Adventures von Sierra oder die Tex Murphy Reihe von Access damals sehr gerne. Und finde die Häme, die über Phantasmagoria oder Gabriel Knight heute ausgeschüttet wird sehr unfair.

    Oder überhaupt Visual Novels, auch aus Japan und im Manga-Stil. Das Problem ist aber auch da, auf einen guten Teil kommen 100 schlechte. Ich habe mir den VNDS Interpreter für mein Tablet runtergeladen und konnte dort z.B. leider nicht eine einzige gute finden. Denn letztlich sind das alles Fanübersetzungen und Konvertierungen von ursprünglich PC Spielen. Viele die ich probiert haben waren schlicht langweilig, vielleicht in Japan poetisch(?) kam das durch die Übersetzung überhaupt nicht mehr hin.

    Warum nicht mehr Visual Novels übersetzt werden, das verstehe ich allerdings auch nicht. Es ist ja jetzt nicht so, dass das alles Hentai-Krams wäre, ganz im Gegenteil.

    Policenauts und Snatcher heute übersetzt und offiziell veröffentlicht würde meiner Ansicht nach alleine wegen dem Namen Kojima schon etliche Leute locken, selbst die, die vorher nichts von den Titeln gehört haben. (Wobei leichte Bedienungs-Verbesserungen auch nett wären).

    Übrigens kann ich den Hype um The Walking Dead nicht nachvollziehen. Das ist tatsächlich ein Simpel-“Adventure” hoch drei. Ich hätte das tatsächlich lieber als interaktiven Comic gehabt, meinetwegen mit Multiple-Choice Entscheidungen für einen anderen Verlauf. Denn das “Gameplay” verdient meiner Ansicht den Namen nicht und ist eigentlich nur nervig.

    Auch bei Heavy Rain habe ich ein wenig zu meckern, und ich mochte schon Omnicron damals unglaublich, aber auch das hatte einige extreme Macken. Ich stehe z.B. überhaupt nicht auf QTEs. Das stört für mich immer den Fluss.

  3. Auch ich konnte einigen ueblicherweise verschmaehten “Interactive Movies” weitaus mehr Spass abringen – darunter z.B. auch “Gabriel Knight 2”, welches ich sehr gelungen fand. Ein weiterer Geheimtipp waere fuer mich auch “Realms of the Haunting”, welches vor allem spielerisch und in Sachen Umfang ueberzeugen konnte, was wahrlich nicht die Staerke vieler Konkurrenzprodukte war.

    Aber der Grundaussage von Andy kann ich dann doch uneingeschraenkt zustimmen: Das Problem der “Interactive Movies” waren nicht die Filmszenen an sich, sondern der fehlende Gehalt bei der Spielerfahrung. Und da macht es sich mittlerweile eben doch bezahlt, dass oftmals gelernte Scriptwriter oder auch Autoren an den Spielen mitarbeiten.

    Was QTEs angeht, kommt es fuer mich drauf an: Wenn ich mir “Fahrenheit” und “Heavy Rain” anschaue, gibt es fuer mich keine bessere Art und Weise, dieses Mechanik zu integrieren. Hingegen nerven sie mich gerade doch ziemlich bei “Tomb Raider”, weil sie fuer mich eigentlich wenig spielerischen Sinn ergeben und eher den Spielfluss unterbrechen.

    Und wenn ich dann mal mit “Persona 4” auf der Vita durch bin (das hat auch mal ausuferende Dialoge), dann bin ich auch fuer “Virtue’s Last Reward” gefeit… :-)